Bern-Berlin, diesmal mit 431 Verbindungen zwischen den beiden besten Städten der Welt.
Neulich habe ich mich verirrt. Nicht in Berlin, selbstredend, sowas passiert mir nie – dass ich gestern Abend in der Notschlafstelle Zoo übernachtet habe, war nur ein Anflug von Selbsterfahrungsdrang…
Item, ich verirrte mich auf die Seite von SRF2 Kultur, wo mir ein Kurzfilm über die unabhängige Republik Wallis angeboten wurde. Nachdem ich der SRF-Gebührenpolizei, welche mir im Ausland solch erhabenes Kulturgut verwehren will, wie gewohnt mit aufwändigen Klicks entronnen bin und für 15 Minuten in mich, beziehungsweise in den Kurzfilm gegangen bin, wusste ich: Berlin ist wie das Wallis, nur anders. Beides sind Konstrukte, die sich in ihrem zwangsauferlegten Heimathafen nicht wohl fühlen. Im Wallis bleibt man lieber unter seinesgleichen, den Wallisern. In Berlin bleibt man unter…ja, unter was eigentlich?
Berlin ist eine Stadt der Zugezogenen, jeder Zweite ist woanders geboren. Gebürtige Berliner sind in der Stadtbevölkerung mit 48 Prozent in der Minderheit. Eher früher oder später werden 4 Millionen Menschen hier leben, ohne Dunkelziffer sind es aktuell 3,5 Millionen. Das löbliche Projekt «Zugezogen Atlas» der Berliner Morgenpost hat sich die Mühe gemacht, jedem der Zugezogenen ein Gesicht oder zumindest einen Punkt auf der Karte zu geben. 431 Berner leben in Berlin, ergab die moderne Volkszählung. In 1780 verschiedenen Städten sind die rund 1,7 Millionen Gestrandeten hier geboren. Im Kanton Wallis gibt es fünf Städte, im Kanton leben 300 000 Menschen. Aber eben, der Wallisfilm, das Werk über Unverstandene, trägt auch die Republik Berlin. Eine Stadt, die sich schwer tut mit der eigenen Identität, weil sie alles sein, jedem gerecht werden soll. Big Apple, die ewige Stadt, die Stadt der Liebe oder Sin City – so einen Beinamen kennt Berlin nicht. Es gibt keine direkte Bezeichnung, kein Äquivalent, hier ist alles nichts und zu gross, zu sperrig für einen tragenden Fussballklub ist die Stadt sowieso.
Vielleicht ist es deswegen soweit gekommen mit der Hertha. Soweit, dass sie erst monatelang ihre Fans verzückte, es wurden zugegebenermassen auch ein wenig mehr während der langen Zeit, die der Klub auf Rang 3, später auf Rang 4 verbrachte, dort, wo mit der Champions League die ganz hohen Weihen winken. Mittlerweile ist die Hertha auf Rang 5 abgerutscht, die Formkurve zeigt nach unten, Fussballberlin hat sich wieder beruhigt und ist ins zweite Glied zurückgetreten.
Zeit, um ehrliche Arbeit zu ehren, dachte sich vielleicht das Komitee des Nannen-Preises in Hamburg, dem wichtigsten Journalistenpreis in Deutschland, und prämierte das Projekt «M29». Diese findigen Journalisten – wiederum von der «Morgenpost» – zeigten entlang der Buslinie M29 eben genau das auf: Berlin ist zu schwer, um gewogen, zu lang, um beschrieben, zu gross um gemessen werden zu können. Zwar entwickelt sich entlang dieser Buslinie von Charlottenburg nach Neuköln die Arbeitslosenquote nach oben und das Grundeinkommen nach unten, doch das macht den einen Stadtteil noch lange nicht besser als den anderen. Das Phänomen ist: Es gibt keine Bronx. Kein Soho und kein Chelsea. Obdachlose hat es überall. Mein Liebling ist ja der am Gesundbrunnen. Ein etwas dunklerer Teint, vielleicht rumänischer Abstammung, blitzende Äuglein, steht er jeweils an der Strasse, als würde er ein Taxi heranwinken. Als wollte er in den Bus einsteigen. Als müsse er über die Strasse. Wenn die Leute dann stoppen, wenn das Establishment dann reagiert auf ihn, den bärtigen Outlaw, dann lacht er schallend, er krümmt sich dabei, manchmal plumpst er dabei regelrecht auf den Hosenboden, die Bierflasche gibt dann dieses gluckende Geräusch von sich, das man nach einem Samstagseinkauf manchmal im eigenen Rucksack hören kann. Ich halte immer an mit meinem Rad. Schon nur deswegen. Und um mich zu orientieren. Sonst ende ich wieder am Zoo.