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Kolumne #9: Prost-it-Blöcke

Bern-Berlin: Diesmal über Sprachkunst und Kunstgrün.

Wie es das WEF, RTL, die FAZ und Muschi Obermaier in eine Kolumne schaffen, lest ihr in der jüngsten Ausgabe der Kolumne aus der deutschen Hauptstadt. Von Moritz Marthaler

Deutschland, Deutschland, Du bestürzt mich! In meinem Bewusstsein bist Du zwar die Erfinderin des Trash-TVs, das weiss ich, seit ich einmal schuldbewusst während gut eines Monats diese unfassbar schlechte Reality-Ermittlungsserie namens «K11 – Kommissare im Einsatz» gekuckt habe. Michael Naseband war der fantastische Name des Chefermittlers, doch das, was jetzt, einige Jahre später, auf mich zukommt, das ist die absolute Champions League des Blödelfernsehens. Ich sitze hier in dieser Stadt, keiner zurückgebliebenen, in einer Bar, keiner üblen, trinke Bier, kein schlechtes, und gucke das «Dschungelcamp» von RTL, die Krönung der Klamaukschöpfung, die maximale Leere auf grosser Leinwand und vor vollen Rängen. Mehr als sechs Millionen Zuschauer schalteten Abend für Abend nach Australien, wo sich in einem TV-Studio mit Kunstgrün zehn Kandidaten wechselweise die Klinke des Nonsense in die Hand gaben. Es ist faszinierend! Analysiert wird rauf und runter, auf bwin.com beträgt die Quote auf einen älteren Herrn mit rätselhaften Glatzenrastazöpfen – der aus irgendeinem unerkenntlichen Grund öfter schreit, denn spricht – sagenhafte 5,75. Ex-Fussballer Thorsten Legat taut alte Sprüche von Chuck Norris auf und ruft uns in Erinnerung, dass Fussballer wirklich oft Kopfbälle spielen. Der Sieger heisst Dschungelkönig und die Leistung besteht darin, am Ende noch da zu sein. Die FAZ schaltete jeweils einen Liveticker. Die FAZ, diese NZZ der Erwachsenen, Gralshüterin deutscher Dichterwürde berichtete in Echtzeit von einer kaum steigerbaren Boulevardorgie! Das ist in etwa so, wie wenn ich für den bewegungsmelder nach Davos ans Weltwirtschaftsforum würde. Bezahlt. Naja, auf jeden Fall war es grossartig, irgendwie. Kollektives Fremdschämen ist ja gross im Kommen, aber das, das hatte auf so ’ne Art etwas total Besinnliches, alle waren auf ihre Art zufrieden und bedient, die verkannte Prominenz mit Aufmerksamkeit, wir, das Volk, mit langen Blicken und einem schiefen Grinsen im Gesicht.

Deutschland, Deutschland, Du verzückst mich! Du bist so viel cooler als wir, es ist einfach so. Deine Bars heissen nicht «subway», weil Du hast eine, sie klingen mit Namen wie «Süss war gestern» noch so lange im katertauben Ohr nach, dass man nächstes Mal mühelos zurückfindet. «An einem Sonntag im August», «Zu mir oder zu dir», «Mädchen ohne Abi», «Künstliche Beatmung», «Muschi Obermaier», «Würgeengel», «Trinkteufel», «Lass uns Freunde bleiben» – das Nachtleben hier ist eine wahre Fundgrube für den Geniesser frivol-verschmitzten Wortspiels. Und die Bierwerbung ist nicht einfach ein plumpes «Dsch Dsch», sondern umtriebige Spassvögel vertreiben auf der Strasse «Prost-it-Blöcke».

Dünnpfiff in der Glotze, Schmackes in der Kneipe, Wahnsinn und Genie können so nah beieinander liegen. Deutschland, Deutschland, Du erstaunst mich!

Infos

Zur Kolumne: Moritz Marthaler, Berner Sportjournalist, entdeckt die deutsche Metropole Berlin für sich. Gleichzeitig schielt er auf das Geschehen in der Bundeshauptstadt Bern, manchmal auch auf den ambitionierten, aber öfter erfolglosen Berner Grossklub BSC Young Boys. Bern ist der Ausgangspunkt für Annäherungen und Schwenker auf Berlin und seine unendlichen Ausgehmöglichkeiten, zusammengewürfelte Bevölkerung, launischen Zeitgenossen und tausend Eigenheiten.

Mi 03.02. 2016