Zurück

Kolumne #4: French Pressing

Union Berlin hat seinen Trainer bereits entlassen, die Young Boys ebenso. Weitere Bern-Berlin Parallelen deckt Moritz Marthaler hier monatlich auf. Von Moritz Marthaler

Die Wochen pflegen ja gerade im Spätsommer schneller vor sich hin zu fliegen, jetzt ist es schon Herbst, und noch vor Ende dieses Satzes könnte es auch schon Winter sein. Brrrrr! Item: Gfrörnis kennt der Grossstädter nur in Ausnahmefällen – in Berlin rückt man gerne mal zusammen, un- oder freiwillig: Im Aufzug, weil viele Leute. Im Openairkino, weil Turnhallenbänkli. Im Stadion, weil voll. Oder in der U-Bahn. Weil Berliner U-Bahn.

Der Berliner Untergrund ist von einzigartigem Unterhaltungswert. Auf den zehn Linien und den über 146 Kilometern Schiene spielen sich manchmal Szenen von unfassbarer Komik ab. In den letzten Wochen ist eine Liste listungswürdiger Dinge und Leute entstanden. Hier ein Auszug: Eine Frau mit einer Dachrinne. Eine Frau mit einem Palett Armierungseisen. Zwei Männer und ein Gabelstapler. Eine Frau mit zwei Melonenhälften unterschiedlicher Farbe. Eine Schulklasse in Schuluniform. Ein Mann in Unterhosen und Steppjacke. Ein Mann mit Skihose und nacktem Oberkörper. Ein Mann als Darth Vader. Ein Junge als RJD2. Zwei Kontrolleure auf Kontrollgang mit je einem Bier in der Hand. Ein Chauffeur mit Sonnenbrille (ja, ein U-Bahn-Chauffeur). Ein Punk in MBT-Schuhen. Ein Senior mit „Beats“-Kopfhörern. Ein Hipster mit einer Schreibmaschine. Ein Hipster mit Tinte und Feder. Ein Hipster mit Invicta-Rucksack. Ein Hipster mit Koteletten, aber ohne Schnauz. Ein Hipster mit Inlineskates (die sind schon alt genug, um Rollschuhe als hip abzulösen!). Ein Hipster…moment – jetzt bin ich von der U-Bahn ins Strassenbild gewechselt, éxcusez!

Nun ja, man hats also schuderhaft lustig hier, und über dem Boden wird ja netterweise auch immer mal wieder Fussball gespielt. In der Bar meines Vertrauens erreichte mich kürzlich die originelle Frage, wie es denn heisse, wenn die französische Nationalmannschaft Druck auf den Gegner ausübe. French Pressing! Darob inspiriert inspizierte ich die Ergebnisse der Ligue 1 und stolperte einige Zeilen darunter über einen französischen Siebtligisten, der durch den Verkauf von Anthony Martial an Manchester United noch Anteilsrechte am Talent ausbezahlt erhielt – 600 000 Euro, das Fünffache des Jahresbudgets. Der Klub heisst CO Les Ulis.

Hmmm…YB. Der Hütter also soll den Haussegen richten. Doch auch ein Hütter haut ab, wenn ihm die besten davonlaufen, das hat er deutlich gemacht, bei seinem letzten Verein Red Bull Salzburg, der seine Besten immer mal wieder auf Stallorder hin an Red Bull Leipzig abgeben muss. Das ist in Bern ja anders, zum Glück. Im Premiumprodukt Super League ist kaum ein Klub gezwungen, seine besten Spieler abzugeben. Nun denn: Eine gut intrigierte Truppe, wie Lothar Matthäus sagen würde. Der zählt ja zu den Experten des Bezahlsenders Sky, das täglich Brot eines jeden Fussballfans im durch und durch privatisierten Fernseh-Deutschland. Neulich twitterte jemand: „Lothar Matthäus ist die Times New Roman unter den TV-Experten.“ Treffend, irgendwie.


Zur Kolumne

Moritz Marthaler, Berner Sportjournalist, entdeckt die deutsche Metropole Berlin für sich. Gleichzeitig schielt er auf das Geschehen in der Bundeshauptstadt Bern, vor allem auf den ambitionierten, aber öfter erfolglosen Berner Grossklub BSC Young Boys. Die Resultate von YB bilden den Ausgangspunkt für  Annäherung und Schwenker auf Berlin und seine unendlichen Ausgehmöglichkeiten, zusammengewürfelte Bevölkerung, launische Zeitgenossen, tausend Eigenheiten.


Mo 14.09. 2015