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Kolumne #13: Broke wie Kleists Krug

Von Hauptstadt zu Hauptstadt, diesmal mit einem Listical, der ersten Ode an den Sommer und einer merkwürdigen Gleichung. Von Moritz Marthaler

Der Handschuh ist jetzt wieder umgedreht. Im Zusammenhang mit Berlin darf man jetzt wieder von „schön“ sprechen, von Farbe, von Lebensbejahung. Es ist Sommer, das Leben findet draussen statt, eine enorme Bereicherung in dieser Metropole, die auf mehr Fläche verteilt ist als jede andere Grossstadt in Europa. Im Berndeutschen gibt es dafür die praktische Umschreibung „usegstuelet“, die Übersetzung „herausgestuhlt“ habe ich mir nach einigen angeekelt verzogenen Gesichtern wieder abgewöhnt…

Item, es ist also warm und oft heiss, es ist wunderbar und da die vorherigen Kolumnen vorab auch ein bisschen selbstreferenziell geprägt waren, da es ja etwas viel einfach um die Stadt an sich ging, auch um Fussball ein wenig, folgen jetzt

zehn Momente der Marke „only in Berlin“:

  • Wenn der Typ, Handy am Ohr, im Supermarkt vor dem Joghurtregal steht, sein Gespräch kurz unterbricht und fragt: „Grosser, kannst du mir was empfehlen?“, du dann auf den Rhabarberquark zeigst und ernst nickst, er anerkennend zurücknickt, davon zwei Stück einpackt und weitertelefoniert.
  • Wenn dein Tagtraum in der U-Bahn jäh unterbrochen wird, weil dich eine Frau, mittleren Alters, mittlerer Auffälligkeit, anbellt, im wörtlichen Sinne, zweimal, mit einem feinen Knurren dazwischen, und dann seelenruhig weiterzieht.
  • Wenn du dich richtig nervst, die Sonnenbrille wieder nicht mit in den Ausgang genommen zu haben, weil hier in Berlin das Wetter gut ist, der Klub kein Dach hat, der DJ nie aufhört und der Tag so früh kommt, dass du die letzten zwei, drei Stunden mit Sonne im Gesicht weiterwippst.
  • Wenn du dem Handwerker morgens um 6.30 Uhr mit handtellergrossen Augenringen die Türe öffnest, der sie aufstösst und meint: „Ick stell nur rasch jen Kessel ab hier und komm in zwei Stunden wieda, ne.“
  • Wenn in der U-Bahn die Durchsage plötzlich vom Fahrer persönlich kommt und ziemlich lange dauert, weil er sagt: „So liebe Fahrjäste, der Zugfakea wird für een Momentchen untabrochen, weil ihr Fahrer uff Toilette muss.“
  • Wenn du nach dem Besuch in der schnellsten Bäckerei Berlin morgens mal wieder ein Schmunzeln auf den Lippen hast, weil dir die Bedienung deinen Joghurt bereits entgegenstreckte und dich mit den Worten „sonst noch wat?“ begrüsste.
  • Wenn du im Berghain das Fotoverbot missachtest, der Security dann eins nach dem andern deiner zahlreichen Fotos vom Innenraum löscht, dann wie durch ein Wunder ein Screenshot eines Quizduell-Rekords auftaucht und die weiter hinten versteckten restlichen Bilder vor dem sicheren Tod bewahrt.
  • Wenn du, für den Moment broke wie Kleists Krug, mit drei 1-Euro-Stücken in den Späti gehst und mit drei Sterni und einer Kippe wieder rauskommst.
  • Wenn du dich mal wieder erwischst, wie du in sonntäglicher Benebeltheit auf dem Flohmarkt rumstolperst, wie immer nichts kaufst und dich dann beim Stand mit den Postkarten und Reisepässen aus den 50er-Jahren verlierst, davon liest, wie Menschen mit tagelanger Verzögerung kommunizierten, schliesslich verblüfft nach dem Smartphone in deiner Hose tastest und dir denkst: „was war denn da los?“.
  • Wenn du alles bisher genannte in der selben Woche erlebst.

Es gibt viel zu sehen, hier im Berliner Sommer und es ist gut zu einem, das Leben im Berliner Sommer. Es ist vielleicht ein wenig wie das Leben im Berner Sommer. Wobei: Ich las von einer Veranstaltung auf dem Warmbächliareal in meiner Heimat, die etwas aus dem Rahmen geraten war, von viel heisser Luft und von Spraydosen und Filzstiften auf Hausmauern. Ich musste ans Kunstmuseum Bethanien in Kreuzberg denken und daran, dass dort der Portier den Eintritt kassiert, während im saftig grünen Garten daneben ein Nachtschwärmer die Pflanzen naturbewässert und zwei Schulbuben die Wand mit Edding verschönern. Gspässig, so schien mir die Gleichung plötzlich: je grösser die Stadt, desto kleiner der Aufruhr.

Infos

Zur Kolumne: Moritz Marthaler, Berner Sportjournalist, entdeckt die deutsche Metropole Berlin für sich. Gleichzeitig schielt er auf das Geschehen in der Bundeshauptstadt Bern, manchmal auch auf den ambitionierten, aber öfter erfolglosen Berner Grossklub BSC Young Boys. Bern ist der Ausgangspunkt für Annäherungen und Schwenker auf Berlin und seine unendlichen Ausgehmöglichkeiten, zusammengewürfelte Bevölkerung, launischen Zeitgenossen und tausend Eigenheiten.

Bild: http://theclubmap.com, 2016.

Mo 06.06. 2016