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Hallo Stockholm, bis bald Bern #5: Kunst und Klos

Skandinavien ist bekannt für Offenheit, soziale Gerechtigkeit und Gleichstellung. Doch schaut man genauer hin, ist es nicht immer so und die Ernüchterung tritt ein. Von Saima Sägesser

Stockholm ist widersprüchlich. Einerseits finden sich mehrheitlich genderneutrale Toiletten in öffentlichen Gebäuden, Väter bleiben zu Hause während des Vaterschaftsurlaubs (Latte Papas genannt) und «hen» ist das allgemein gebräuchliche, genderneutrale Personalpronomen, aber anderseits gehe ein gigantischer, blauer Penis an einer Hausfassade als Kunstwerk dann doch zu weit. Mit der Vorstellung allen und allem gerecht zu werden, wird die Freiheit der Kunst beschnitten. Stockholm befindet sich in einem Schwebezustand zwischen Akzeptanz, Toleranz, Offenheit und Förderung, aber ohne Provokation (wenn denn ein blauer Penis das sei), Anecken oder Diskussion. Immer schön einander die Köpfe kraulen. Funktioniert, ist aber vielleicht auf Dauer unbefriedigend und langweilig.

Das Kunstwerk wurde nach nur wenigen Tagen, heftigen Gegenreaktionen und Vandalen, letzten Endes übermalt und frustet nun sein Dasein als Fotografien in den sozialen und anderen Medien. Hingegen sind allerlei Cyborg-Sextoys und ein Muster für einen Stuhl, auf den sich Menschen zur Prostata-Untersuchung drauf legen können, quasi als Gegenstück zum Gynäkologie-Stuhl, wiederum kein Problem – im geschlossenen Raum notabene. Man entscheide ja freiwillig, ob man eine Ausstellung besucht. Ich spreche vom hiesigen Architektur und Design Museum ArkDes auf der Stockholmer Insel Skepsholmen. Die Sonderausstellung im Winter beschäftigte sich mit Formen von Normen und wie diese zu torpedieren, biegen und brechen sind.

Im gleichen Gebäude findet sich das Moderna Museet mit einer eindrücklichen Sammlung von Kunstwerken des 20. Jahrhunderts. Das lichtdurchflutete Museum lädt zum Verweilen ein. Fragen werden hier sehr gerne beantwortet, Besucher*innen werden freundlich begrüsst, der Eintritt ist kostenlos, Rucksäcke deponieren muss nicht sein und eine App führt als Audio-Guide auf dem eigenen Smartphone durch die Sammlung. Bitzli anders als Berner Kunst-Institutionen…

Neben diesen beiden Museen finden sich weitere Kunstgalerien und Kunsthallen in Stockholm. Die Galerien der Altstadt sind vor allem mit Handwerks-Kunst, die überteuert an Touris verhökert werden soll, voll gestopft. Galerien in Södermalm sind da progressiver. Besonders spannend finde ich das Konzept einer Pop-Up Galerie an der Bellmansgatan 26. Ein kleines Ladenlokal mit grosser Fensterfront wird immer wieder für je eine Woche von neuen, jungen Künstler*innen gemietet, die dann ihre Werke ausstellen. Gibt es / gab es übrigens in Bern nah zum Bundeshaus auch.

Es fällt auf, dass Stockholm auf der aktuellen Feminismen-Welle hoch oben mit dabei ist. Viele Kunstausstellungen, wie gerade zwei Mal nacheinander im Fotografiska, drehen sich oft um das Frau-sein. Genderfluidität und zahlreiche Sexualitäten und Begehren finden Ausdruck in verschiedensten Kunstformen und sind zugleich alltäglich. Neben diesen Themen gehen allerdings andere unter: etwa die erschreckende Gewalt in Stockholms Vororten, die aus dem Stadtbild verdrängten Immigrant*innen oder die sichtbare Obdachlosigkeit. Da ist dann eben Stockholm mehr Grossstadt als Bern, der das liebliche, härzige, manchmal auch dörfliche zu Gute kommt. 

Der Penis ist weg, die Diskussion wird von anderen News überlagert und die Klos sind nicht immer genderneutral – eigentlich wie zu Hause.

Infos

Saima Sägesser ist aus ihrem Langenthaler Nest ausgeflogen, um für ein paar Monate ins verlockende Stockholm zu ziehen. Im Rahmen ihres Studiums an der Uni Bern schaut sie sich die schwedische Metropole mal etwas genauer an und versucht dabei ihren Pflichten und den besonders reizvollen Rechten eines Studentinnenleben nachzugehen. Wie sieht die vertraute Heimat aus der Ferne, aus dem skandinavischen Norden aus? Saima checkt das monatlich in ihrer Kolumne «Hallo Stockholm, bis bald Bern» für euch aus.

Mo 30.04. 2018