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Rückblick: Sziget 2016

Wenn man innert 10 Minuten an einer Kilbi, einer Tanzperformance, einem Drachen aus PET-Flaschen, zahlreichen Kleinstmuseen und einer Oper vorbeiläuft, dann stehen die Chancen gut, dass man sich auf dem Sziget befindet. Ein Bericht von der Insel, die aus Oben Unten macht. Von Rico Plüss

Im Vorfeld dieses ersten Festivalbesuches mitten auf einer Insel in Budapest rankten Legenden um die Tage, die man dort angeblich verbringen kann. Von der Magie des Sziget wurde gesprochen, geschwärmt in den höchsten Tönen von den Möglichkeiten, die sich dort bieten. Da erstaunt es denn auch nicht, dass an der Pressekonferenz die Verantwortlichen die anwesenden Journalisten beinahe schon anflehten, nicht einfach schnöde von Konzerterlebnissen zu berichten, sondern vom «Erlebnis» Sziget. Die Vermarktung des siebentägigen Festivals zielt also nicht nur auf singuläre Events, sondern will ein Gefühl vermitteln, das über diejenigen eines reinen Konzertbesuches hinausgeht.

Gefühle stellen sich denn auch ziemlich schnell ein, wenn man die Insel betritt. Auch angesichts der zahlreichen internationalen Festivals, die der Autor in seiner Vergangenheit besucht hat, müssen sich diese in den Schatten der schieren Grösse des Geländes und Angebots stellen. Selbst nach 5 Tagen intensivem Erkunden taten sich immer wieder neue Wege und Abkürzungen zu den unzähligen Sehenswürdigkeiten und Attraktionen auf. Die im Lead beschriebenen Stationen, die man innert 10 Minuten erreicht, machen nur einen kleinen Teil des Geländes aus. Es gesellen sich eine Hauptbühne, die 60’000 Personen davor versammeln kann, eine Art-Zone, eine Zeltbühne (welche etwa diejenige des Gurtens x-mal schlucken könnte), zahlreiche weitere kleinere Bühnen, eine endlose Foodmeile mit aberdutzenden Ständen und noch viel mehr dazu. Bezeichnend der kurze Moment, in dem das Herz stehen blieb, als auf dem Weg vom Essen zur Hauptbühne im Halbdunkel ein Mensch vom Himmel zu fallen schien. Es handelte sich aber glücklicherweise nur um einen Bungeejumper.

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Die Art-Zone: Ein der wenigen Orte, an dem es annähernd ruhig ist.

 

Der Wahnsinn, der sich einem bietet, wird schnell zu einer ganz eigenen Normalität. Angesichts von bis zu 90’000 Menschen pro Tag auf dem Gelände erstaunt das aber nicht weiter. Ob Spidermen, japanophile Cosplayer, Menschen in Strampelanzügen oder anderen skurrilen Verkleidungen – das Spezielle wird derart schnell gewöhnlich, dass man über die Anpassungsfähigkeit des Menschen einfach mal wieder staunen kann. Das Individuum hat grundsätzlich wenig Bedeutung im kollektiven Rausch der Sinne und Klänge der Insel. Da ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass die Organisator_innen des Festivals vom «Sziget-Erlebnis» sprechen, das sie heraufbeschwören möchten. Dieses stellt sich auch ein, ohne dass man gross etwas dazu tun muss. Die Freundlichkeit, Ausgelassenheit und Rücksichtnahme des doch eher jungen Publikums sucht seinesgleichen. Es herrscht eine respektvolle Ausgelassenheit, die sogar einen sarkastischen, kulturell abgebrühten Endzwanziger mit mässigem Partybombe-Potential (der Autor, Anm. d. Autors) zu beeindrucken vermag. Dass rund 100 verschiedene Nationalitäten (und wohl ähnlich viele sexuelle Orientierungen) in einer erfrischenden Selbstverständlichkeit auf dem Gelände auf- und nebeneinander rumwuseln, trägt vermutlich seinen Teil dazu bei, dass das Miteinander mit mehr Rücksicht und Akzeptanz gelebt wird als anderswo.

Aus musikalischer Sicht gilt vorab zu erwähnen, dass der Autor sich nur begrenzt auf das Line-Up gefreut hat. Angesichts der enormen Konzertdichte waren doch aus der Ferne wenige Acts darunter, auf welche sich aufrichtig gefreut werden konnte. Børns gehörte dazu, ebenso Isolation Berlin und Jain. Ersterer vermochte leider erst in der zweiten Hälfte zu zeigen, welches Popstar-Material in ihm steckt. Bis dahin sorgten sein fehlendes Charisma und die ausnahmsweise schlechte Abmischung eher für Enttäuschung. Hits wie «10’000 Emerald Pools“ wurden völlig versiebt. Schade. Isolation Berlin hatten einen undankbaren Nachmittagsslot, schnodderten den paar Dutzend Zuschauenden aber ihren Postpunkt (mit viel Tocotronic-Einschlag) höchst sympathisch hin. So bleibt noch Jain, in die sich wohl ein ganzes Zeltpublikum, unabhängig von Geschlecht und Alter, kurzerhand unsterblich verliebte. Ihr Ethno-Worldmusic-Pop bedient sich nach Lust und Laune bei jedem Genre, das gute Laune verbreitet, vermag jedoch durch ihren unbändigen Charme und ihre Bühenpräsenz bis in die letzten Reihe mitzureissen.

Jain! // Quelle: magmind.fr
Jain! // Quelle: magmind.fr

Daneben gab es noch unzählige weitere Konzerte, von denen jedoch einzig die Tops und Flops Erwähnung finden sollen. Das ‚Yiddish Twist Orchestra‘ hatte Klasse und fuhr direkt in die Tanzbeine. Abgesehen von den manchmal etwas fragwürdigen Lyrics verbreitete die ungarische Supergroup ‚Budapest Bar‘ mit ihrem wilden Gypsy-Rock-n‘-Roll gute Laune. ‚Ouza Bazooka‘ aus Israel überzeugten mit ihrem surf-angehauchten Psych-Rock – gar nicht zu überzeugen vermochte hingegen ‚Riri‘ (Rihanna). Man war sich beinahe festivalweit einig darüber, dass die gute Dame einen enttäuschenden Auftritt hinlegte: Von über einer halben Stunde Verspätung hin zu andauernden Unterbrüchen, liebloser Präsentation und Interaktion machte alles den Eindruck, als ob die Frau aus Barbados unmotiviert ihr Pflichtprogramm abspulte. Und dann war da noch ‚Dävu Baguetta‘, wie er liebevoll von den anwesenden Journalist_innen genannt wurde. Sein Auftritt am Sonntagabend führte dazu, dass die Deppenquote exponentiell stieg und sogar ’normale‘ Festival-Verhältnisse erreichte. Auch die Anzahl verstrahlter junger Menschen nahm erschreckende Ausmasse an. Erschreckend war denn auch sein Auftritt: Ein herzloses Best-Of-Mash-Up aus seinen und anderen Hits. Zeitweise drehte er die Lautstärkeregler so oft herunter um das Publikum die Parts singen zu lassen, dass vom eigentlichen Song nicht mehr viel gehört wurde (nicht dass das an sich etwas schlechtes gewesen wäre). Die Tatsache, dass sich aber für einen Auftritt tatsächlich an die 60’000 Leute um die Hauptbühne versammelten (und auch noch ihren Spass zu haben schienen), gab schon zu denken. Aber die ‚Island Of Freedom‘ mag halt auch einen Dävu Guetta.

Dävu Baguetta Quelle: szigetfestival.com
Dävu Baguetta // Quelle: szigetfestival.com

Abschliessend gilt zu sagen, dass die Wucht, mit welcher das Sziget für ein paar Tage «Crazy» zum neuen «Normal» erhebt, umwerfend ist – in vielerlei Hinsicht. So bleiben neben den Konzerten auch andere Momente in Erinnerung, etwa eine Tanzaufführung des Bodhi-Kollektivs aus Salzburg am allerletzten Tag oder ein schlüpfrig-queeres Berliner Kabarett im LGBT-Zelt am ersten Festivaltag. Würde der Autor nochmals ans Sziget gehen? Dafür fühlt er sich wohl mittlerweile zu alt. Ist er froh, am Sziget gewesen zu sein? Absolut. So abgelutscht das auch klingen mag, das Sziget ist ein Erlebnis, das die Überforderung allemal wert ist.

 

Full disclaimer:
Rico Plüss reiste dank Factory92 ans Sziget. Inbegriffen waren Flug, Unterkunft und Pressepass.

Mi 24.08. 2016