Nox Orae – lateinisch für «Küstennacht». Das (viel zu) oft bemühte «Klein aber fein» hat in dem welschen Festival mal wieder seine komplette Entsprechung gefunden. Von Rico Plüss
Während weiter östlich kurz zuvor die Badenfahrt 10 Tage lange ein Dorffest auf beinahe nationaler Ebene anbot, sorgte das Nox Orae für gemütliches Beisammensein in wesentlich schmaler gezogenem Kreis. Die mehr als eine Million Menschen, welche durch das wunderbar gestaltete Baden zogen, hätten sich aber grossmehrheitlich in Vevey fehl am Platz gefühlt. Denn wenngleich beiden Orts Jung und Alt friedlich nebeneinander einem kulturellen Anlass beiwohnten, lagen die fokalen Punkte weit auseinander – laut war es aber sowohl in Baden als auch in Vevey.
Seinesgleich suchende Klangwände und 30 Jahre Bandgeschichte: Slowdive
Tosend und mächtig wie ein Tsunami markierten Slowdive den klaren Höhepunkt dieses zweitägigen Festivals am Genfersee. Ganze vier Alben schauten aus fast 30 Jahren Bandgeschichte heraus (eines davon war erst nach ihrer im 2014 erfolgten Reunion erschienen), und die Band wusste mit traumwandlerischer Sicherheit, welche Songs aus ihrem zugegebenermassen eher kleinen Repertoire in die Setlist gehörten. Dass Shoegaze als Genre seinen Höhepunkt längst gesehen hat, änderte nichts daran, dass das Publikum die Engländer frenetisch feierte. Es sprach für die Band, dass sie nicht in den Applausstürmen des Publikums badete, geschweige denn gross Konversation betrieben hat, sondern die Musik sprechen liess. Was da an Klangwänden aufgeschichtet wurde, suchte seinesgleichen. Kompliment an dieser Stelle an die Soundtechnik; es war eine akustische Freude, wie die schwierig abzumischenden Tonbilder von Slowdive klar und trotzdem laut dröhnend in den Nachthimmel geworfen wurden. «It matters where you are» ist die Zeile, mit der im zeitlosen Song «When The Sun Hits» von Slowdive alle Dämme im Songkonstrukt zu brechen beginnen und in Vevey wurden die Zuhörenden richtiggehend überrollt.
Der restliche erste Festivaltag verblasste ein bisschen nebst Slowdive. Vor ihnen spielten Foxygen, die mehr überzeugten als auch schon, trotz Sam France’s immer noch bescheidenen gesanglichen Künsten. Die Showeinlagen und das Gebaren hingegen erinnerten an einen Hollywoodstreifen aus den 50ern und versprühten viel Schalk und Schönheit. Anschliessend an Slowdive spielte das Moon Duo, ein Nebenprojekt der Wooden Shjips. Experimentell, krautig und cool-unterkühlt hätte das ein durchaus spannendes Konzert werden können, leider waren jedoch die Vorräte an Begeisterungsfähigkeit vollständig ausgeschöpft und die Mehrheit des Konzertes aus der Sicherheit des angrenzenden Seeufers halb mitgehört.
Ein Hauch Nostalgie und Sentimentalität
Der zweite Festivaltag war vom Publikumsaufgebot her klar stärker besucht, was wohl nicht zuletzt daran lag, dass The Jesus & Mary Chain Zugkraft jenseits eines Nischengenres besitzen. 1994 formierten sich die vier Herren aus Schottland, lösten sich 1999 auf und rauften sich 2007 wieder zusammen. Insofern wehte ein Hauch Nostalgie und Sentimentalität an diesem Abend um manche der älteren Herren und Damen, begleitet vom stark nach Gras riechenden Rauch der CBD-Zigaretten, die es auf dem Gelände zu kaufen gab – und deren Schwaden einem stellenweise das Gefühl gaben, Woodstock käme gleich um die Ecke und würde Batiktücher verteilen.
Die Schotten von The Jesus & Mary Chain liessen sich davon aber nicht beirren und spielten, ähnlich wie Slowdive, ein Set ohne Schnickschnack und Plaudereien. Bemerkenswert war Jim Reid’s Gesang, der live eine wesentlich eindrücklichere Präsenz besitzt als ab Platte. Auch die Band rund um die zwei Reid-Brüder gab sich mit der Setlist keine Blösse und spielte Hits wie ‘April Skies’ und das berühmte ‘Just Like Honey’. Daneben boten sie die meisten Songs des neuen Albums (Damage And Joy) dar. Im Kontrast mit den älteren Songs (das letzte Studioalbum ist fast 20 Jahre her) fiel auf, dass die neuen Songs mehr Pop-Einschlag besitzen und eingängiger sind als die oft schleppenden Lieder der vorherigen Alben. Böse Zungen würden dem Ganzen schon beinahe Stadion-tauglichkeit unterschieben.
Ty Segall, der vor den Schotten aufgetreten war, spielte seinen Garage Punk mehr als anderthalb Stunden und hinterliess, dem Beifall zu vernehmen, ein begeistertes Publikum. Dem Rezensierenden sagte es gar nicht zu, weswegen auch hier die See-Promenade den Zuschlag erhielt.
Nox Orae: Würdiges Ende der Festival-Saison
Dass es noch Festivals wie das Nox Orae gibt, ist ein Segen. Mit viel Charme, Gemütlichkeit und einer ausgesprochen freundlichen Grundstimmung überzeugte die bereits achte Ausgabe auf ganzer Länge. Faire Preise und eine gute Auswahl bei der Verpflegung waren das Tüpfelchen auf dem I dieses ungemein gelungenen Wochenendes und der beste Schluss der Festival-Saison, den man sich vorstellen kann. Mit einer Plattitüde wurde gestartet, also soll auch mit einer geendet werden: Nox Orae, man sieht sich wieder.