Ein guter Mensch sein, ja, wer wär’s nicht gern … Doch die Verhältnisse,die sind nicht so.» Wer kennt es nicht, das erste Finale der «Dreigroschenoper», in dem die Figuren, die man als zweifelhaft und nur am schnöden Gewinn orientiert kennengelernt hat, die Verhältnisse in der Welt beklagen, die sie nachgerade «zwingen», egoistisch und kriminell zu sein. Auch wenn sie doch gar zu gern anders wären, grosszügig und hilfsbereit.
«Der gute Mensch von Sezuan» könnte das Stück zum Song sein: Die junge Shen Te, ein armes Mädchen, begegnet drei ominösen Göttern, die sie als «guten Menschen» erkennen und ihr helfen wollen. Sie verschaffen ihr die Mittel, ein kleines Tabakgeschäft zu eröffnen, das ihr Auskommen sichern soll, mit dem sie aber auch hofft, Gutes tun zu können. Doch Shen Te muss bald erkennen: Die Gesetze des kapitalistischen Marktes sind hart; wenn sie allzu mitleidig und hilfsbereit ist, gefährdet sie ihr Geschäft und würde niemanden unterstützen, nicht einmal sich selbst erhalten können. In ihrer Not erfindet sie ein Alter Ego, den strengen, kalten Vetter Shui Ta. Dieser Vetter ist es, der die harten Entscheidungen trifft, und Shen Te muss sich dem beugen, kann nur hier und da versuchen, allzu Unliebsames abzumildern.
Bertolt Brecht verlegte seine zeitlose Parabel ins ferne China, aber die Botschaft ist ebenso deutlich wie heute noch aktuell: «Ein richtiges Leben im falschen» gibt es eben doch nicht. Wer in einem brutalen, korrupten System reüssieren will, muss sich auf die Bedingungen dieses Systems einlassen, indem er die Werte entweder akzeptiert oder, wie Shen Te, den anderen, besseren Teil seiner Persönlichkeit abspaltet – bis sie an dieser Spaltung zerbricht. Die Frage, die Brecht aufwirft, könnte kaum dringlicher sein: Welche unserer Werte sind wir bereit, über Bord zu werfen, wenn es darum geht, den materiellen Wohlstand zu sichern?