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Eine ziemlich spannende Kolumne #8: Neulich an der Ampel

Oder: Was ich gelernt habe aus dem Selbstverteidigungs-Camp von früher.

Einblick in ein kleines, privates Problem: Nichtsahnend wird man tagsüber ohne mögliche Vorboten öffentlich (?) beleidigt. WIe Kulturredaktorin und Seelenreiter-Mitglied Lena Rittmeyer mit diesem Affront umgeht. Von Seelenreiter // Lena Rittmeyer

Kürzlich fuhr ich mit dem Velo über den Bahnhof. Die Ampel vor dem Fussgängerstreifen, der in die Neuengasse mündet, zeigte rot. Weil nur noch wenige Leute die Strasse überquerten und ich ahnte, dass es bald grün wird, stieg ich nicht ab, sondern verlangsamte meine Fahrt bis fast zum Stillstand, so dass der letzte Fussgänger noch vor mir rüber konnte.

Der steuerte aber komischerweise direkt auf mich zu. Er ging dicht an mir vorbei und sagte etwas, praktisch in mein Ohr, so dass nur ich es hören konnte. Er sagte: «Schlampe».

Ich war zu perplex, um etwas zu entgegnen. Die Sache ist ja: Wenn mich jemand im Strassenverkehr beleidigt, stecke ich das meistens weg. Oder zeige meinerseits den Finger. Aber das war anders, die Beschimpfung zielte klar auf mich als Frau ab und sie hatte beinahe etwas Intimes. Nur ich wusste in dem Moment, was der Mann gesagt hat. Niemand der Passanten konnte für mich Partei ergreifen oder auch nur missbilligend den Kopf schütteln.

Es gibt keine Zeugen für den Vorfall. Das macht ihn automatisch zu meinem kleinen privaten Problem. Und natürlich ist dieses harmlos, wenn man es mit anderen Erlebnissen vergleicht, die viele Frauen vor kurzem im Rahmen der «#SchweizerAufschrei»-Aktion publik gemacht haben. Trotzdem hat mich das Geschehnis seltsam getroffen. Ich glaube deswegen, weil es so persönlich an mich gerichtet war, weil für ganz kurz eine teuflische Komplizenschaft entstand zwischen mir und dem Mann. Und das denke ich, ist der eigentliche Punkt: Wir müssen uns von Anfang an befreien von der Vorstellung, dass wir da in irgendeiner Form mitmachen, und sei es nur etwa dadurch, dass wir nicht über die Angelegenheit sprechen.

Meine Eltern haben mich als Kind in ein Selbstverteidigungs-Camp für Mädchen gesteckt. Wir lernten ein paar fiese Handgriffe und bekamen Tipps gegen die Angst, wenn man nachts durch eine finstere Unterführung geht. Das meiste habe ich heute vergessen. Aber was tatsächlich geblieben ist, ist die Überzeugung, dass ich mich wehren kann. Vielleicht nicht immer gleich schlagfertig wie dort am Fussgängerstreifen. Und doch weiss ich sehr gut, dass ich das nicht auf mir sitzen lassen muss. Dass mir niemand einfach so «Schlampe» sagen darf. Ich glaube, darum gehts. Um die Konfrontation, die Gegenrede. Darum, in Momenten wie diesen den Finger zu zeigen.

Infos

Die Beiträge der "ziemlich spannenden Kolumne" stammen vom Kultur-Blog Seelenreiter.
Lena Rittmeyer ist Kulturredakteurin bei der Berner Tageszeitung "Der Bund".

Di 15.11. 2016