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Eine ziemlich spannende Kolumne #6: Welt im Kopf

Was wäre, wenn wir ein wenig anders wären, als wir es sind? Die Welt ist ja so schon seltsam genug, mit Schwimmflügeln, Torhütern, Literatur und dem vergehenden Sommer. Von Julia Weber // Seelenreiter

  1. Heute habe ich mir versucht vorzustellen, wie die Menschen mich verstehen würden, wenn ich nicht so aussehen würde, wie ich aussehe. Was würden sie hören, wenn mein Kopf grösser wäre, mein Haar rot, zum Beispiel, und meine Stimme flüssiger, vielleicht.
  1. Heute bin ich bei solchen Überlegungen in der Sonne weggedämmert, neben mir hat das Kind mit Manuel Neuer geredet. Er solle endlich seine Schwimmflügel anziehen, damit sie schwimmen gehen könnten, hat es zu ihm gesagt. In der Hand hat es einen roten, aufblasbaren Gummiknüppel gehalten und ihn Pokal genannt. Es ist ganz und gar nackt in der Sonne gestanden.
  1. Heute habe ich, wie jeden Tag, seit geraumer Zeit, daran gedacht, dass im Februar mein erster Roman erscheinen wird. Anders als erwartet, hatte ich bei der Zusage des Verlages nicht geweint, geschrien, getanzt. Ich sagte, ja da freue ich mich aber sehr. Dann habe ich eine Woche lang jeden Tag mit jemandem darauf angestossen, habe viel getrunken für die Freude am Buch, habe jedes Mal gesagt, ja da freue ich mich aber sehr. Zwischendurch habe ich mich auch einmal ganz fest konzentriert und nach Innen geschaut und gedacht, vielleicht kommt ja dann die Erleichterung, das Tanzen, das Schreien, das Weinen. Dann habe ich die Augen geöffnet und gedacht, ja da freue ich mich aber sehr.
  1. Heute habe ich realisiert, dass es sehr gut ist, nicht zu weinen, nicht zu schreien, nicht zu tanzen. Ich bin bereits da angekommen, dachte ich, wo ich sein will mit meinem Schreiben, und diese Zusage für ein Buch ist ein glücklicher und auch logischer Schritt in meinem Tun.
  1. Logik
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  1. Heute hat das Kind gesagt: Ich mag das Wort Limmat und Mama hat ein Buch. Und Papa hat zwei.
  1. Heute ist der Sommer sehr alt und die Zeit ist ein komisches Konstrukt, wie sie vergeht und wie man in ihr sich bewegt, mit all diesen Wünschen und Sehnsüchten und Erklärungen, Erkenntnissen und.
  1. Heute habe ich an meine Protagonistin Anais gedacht und an ihren Bruder. Dass ich mich sehr darauf freue, ihre Welt in die Welt zu geben. Ich glaube, sie tun dieser Welt gut, habe ich gedacht. Ich glaube, sie befühlen die Welt mit ihren Händen auf eine Art und Weise, wie es Real sein kann, wie es aber keinem Möglich ist, weil sie aus meinem Kopf gekommen sind mit ihren Händen, ihren Köpfen, ihren Wegen.
  1. Die Hand meiner Protagonistin
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  1. Heute habe ich Manuel Neuer die Schwimmflügel an seine Arme getan und aufgeblasen, weil das Kind meinte, er könne nicht ins Wasser ohne die Schwimmflügel, und Manuel Neuer sei zwar der beste Torhüter der Welt, also neben Buffon, aber er könne halt nicht schwimmen, weil er so klein sei, wie das Kind und Buffon eben auch nicht, deswegen müsste ich jetzt auch noch Buffon die Schwimmflügel geben, und später kämen dann noch Thomas Müller und Island und Polen vorbei.
  1. Heute habe ich gedacht, dass die Welt seltsamer ist als mein Erfinden. Aber es kommt wohl auf den von mir betrachteten Ausschnitt an, habe ich gedacht und den Nachbarn beim Auszupfen einzelner Grashalme betrachtet. Sie ist komisch mit ihrer Luft, ihren Menschen, ihrer Sonne, ihren Gesprächen über das Wetter, Amerika, Buffon, Polen, Island, Literatur und mit mir in ihr, die sich vorstellt, wie ich verstanden werden würde, wäre ich nicht ich.
Infos

Die Beiträge der "ziemlich spannenden Kolumne" stammen vom Kultur-Blog Seelenreiter.
Julia Weber ist Schriftstellerin, Betreiberin des Literaturdienst.ch und Autorin der aktuellen Ausgabe des Seelenreiters-Beitrags auf dieser Seite.

Di 27.09. 2016