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Eine ziemlich spannende Kolumne #14: Widersprüchliches zum Sommeranfang

Heiss ist es geworden. Die Aare nähert sich ihrer Rekordtemperatur aus dem Sommer 2003, in den Wäldern herrscht höchste Brandgefahr. Und mit der Hitze ballen sich die Widersprüche in der stehenden Luft. Gewitter können nicht allzu fern sein... Von Seelenreiter // Stephan Schoenholtz

Gestern war der längste Tag des Jahres. Ich habe es nicht bemerkt, bei der Arbeit im Tierparkrestaurant Dählhölzli. Der Sommer hat begonnen, die Tage werden wieder kürzer. Ich habe das immer komisch gefunden.

In der Gastronomie nimmt das Leben einen eigenen Rhythmus an. Zu Schichtbeginn begrüssen wir einander mit „Guten Morgen“, auch wenn es schon halb zwölf ist und die Papiersets der ersten Mittagsreservationen im Wind flattern. Abendpläne lassen sich kaum schmieden, man weiss nie, wie lange es dauern wird, das hängt von den Gästen ab (und manchmal vom Chef de Service). Seit Wochen bin ich nicht mehr im Kino gewesen.

Der letzte Film, den ich gesehen habe, war „The Other Side of Hope“ (immer noch im Cinemovie). Ein sehr schöner, sehr bitterer Film über den Versuch eines syrischen Flüchtlings, in Finnland ein neues Zuhause zu finden. Vielleicht retten ihn seine Ausdauer und sein Überlebenswille da, wo eine ganze Gesellschaft nicht über ihren Schatten zu springen vermag. Der Film lässt das, augenzwinkernd, offen.

Wir kennen das aus ganz Europa, aus der Schweiz. Aus dem Kanton Zürich, wo Menschen, deren Asylgesuch abgelehnt wurde, willkürlich ihrer Bewegungsfreiheit beraubt werden. Aus dem Kanton Bern, wo die Wahlberechtigten es kürzlich ablehnten, mehr Steuergelder für unbegleitete Jugendliche auf der Flucht zu verwenden, um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Dieselbe Partei, die Wählerinnen und Wählern damit Angst zu machen versuchte, sie müssten mit erneuerbaren Energien in Zukunft kalt duschen, behauptet jetzt, eine angemessene Betreuung für Kinder und Jugendliche auf der Flucht sei ein Luxusproblem.

Gleichzeitig läuft im Kino recht erfolgreich ein Film über die Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Unendlich spät war das, 1971 (zum Vergleich: in der Türkei dürfen Frauen seit 1934 zur Wahl gehen, im Iran seit 1963). Ein Film über eine notwendige gesellschaftliche Veränderung.

In „Die Göttliche Ordnung“ habe ich’s noch nicht geschafft. Dafür in die Heitere Fahne, wo es zuletzt auch um Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ging. „Oh Boyoma!“ kehrte die Fluchtbewegungen der Gegenwart kurzerhand um und erklärte eine geheimnisvolle fiktive Stadt im Kongo zum zukünftigen Sehnsuchtsort des Schweizer Publikums. Der wunderbare grosse Saal der „Heiteren“ wurde für uns Besucherinnen und Besucher zur Quarantänestation, in der wir erst einmal das Lied dieser Stadt zu lernen hatten, von der wir uns ein anderes oder besseres Leben erhofften. Und dabei natürlich mitbekamen, was Andere vor uns erlebt hatten, mit welchen Hoffnungen sie ausgezogen waren und welche Erfahrungen sie gemacht hatten. Zwei schön verspielte und musikalisch ansprechende Stunden waren das. Sie werfen auch die Frage auf, welche Geschichten sich wohl die Menschen erzählen, die den Aufbruch nach Europa wagen oder es vorhaben. Wie sprechen sie wohl über unsere fernen ersehnten Länder?

Ins Kino würde ich doch gerne wieder gehen. In den Dokumentarfilm „Denk’ ich an Deutschland in der Nacht“, in dem es um die Arbeit von DJs geht. In „Lion“ vielleicht, weil er schon so lange läuft und weil ich gehört habe, er sei mitreissend erzählt. In „Wonder Woman“, um selbst zu sehen, was es mit diesem „feministischen Actionfilm“ auf sich hat. Und weil ich auch Spektakel gern habe, ab und zu wenigstens. Egal welcher Film, Kino im Sommer ist für mich ein angenehm schattiger Ort, um sich abzulenken oder nachzudenken oder in irgendeiner Form zu sich zu kommen.

Infos

Die Beiträge der "ziemlich spannenden Kolumne" stammen vom Kultur-Blog Seelenreiter.
Stephan Schoenholtz ist Drehbuchautor und Filmwissenschaftler, mit einem Fuss in der Kinemathek "Lichtspiel" und einem anderen auf Wanderschaft mit dem "Roadmovie".

Do 22.06. 2017