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«Freiraum ist ein Pleonasmus»

Fünf bunte Jahre Zwischennutzung Warmbächlibrache sind zu Ende. An der Beerdigung der beliebtesten Steinwüste Berns hat der Bewegungsmelder mit den Trauergästen über die Vorstellung von Freiraum gesprochen, die in den Köpfen weiterlebt. Von Noè Jeanne Freiburghaus

Spätestens seit der Sauvage stadtbekannt: Die Warmbächlibrache.
Foto: Erlend Gass

Es wurde in den vergangenen Wochen viel gemunkelt, es werde doch sicher noch ein drittes Mal verlängert, aber nun ist es soweit: Die Brache ist wieder voll leer, vollständig geräumt und alles, was bleibt, sind unzählige unvergessliche Erinnerungen und ein paar zurückgelassene Lavendelsträucher, die in Holligen ihre letzten Tage bis zur grossen Umgrabung zählen. Die Bus Stop Bar hat den Löffel und der Verein Warmbächlibrache den Schlüssel zum Gelände abgegeben.

Die etwas andere Abdankung

Vor einigen Tagen wurde sie noch ein allerletztes Mal belebt und betanzt – coronabedingt in einem etwas kleineren Rahmen als 2019 beim Musik-Openair «Ende Gelände». Doch ein überwältigendes Feuerwerk an einem der bereits platzierten Bauprofile bildete den fulminanten Abschluss, der dem urbanen Begegnungsort würdig war.

Rituell und liebevoll wurde die Brache am Sonntagmorgen mit sich selbst zugebuddelt.
Foto: Noè Freiburghaus

Am Morgen danach präsentiert sich bereits ein ganz anderes Bild: Der Duft von Weihrauch liegt in der Luft, die Brache wurde beigesetzt. Die Anwesenden, die sich in den letzten fünf Jahren für die Zwischennutzung engagiert haben, sind beim Grebt nicht nur wegen dem Kater eher leise. Zu hören sind nur die Bohrgeräusche der Demontage irgendeines Holzkonstrukts und das Klackern von Spraydosen im Hintergrund. Ein Graffiti Künstler arbeitet an seinem letzten, vergänglichen Werk vor Ort. «Diese Impermanenz hat viel der Brache-Energie ausgemacht. Nichts für immer. Alles für jetzt», sinniert Christian, Pfarrer und Vereinspräsident der Brache.

Unfreier Raum ist eine Erfindung

Menschen, die freiwillig alles geben und das Areal belebten, liessen aus dem freien Raum einen Freiraum entstehen. Aber eigentlich ist der Begriff ein Unwort. Was bedeutet Freiraum? «Unter Freiräumen verstehe ich Erfahrungsräume, in denen unkonventionelle Verhaltenskodizes ausgehandelt werden können, was für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung von grosser Bedeutung ist», sagt Mario. «Echte Öffentlichkeit braucht Spielraum, um nicht von Verzweckungen aufgefressen zu werden», findet auch Christian, aber «Freiraum ist ein Pleonasmus: Die Erfindung eines unfreien Raums ist das Resultat von Angst und ein komisches Vorhaben von Menschen mit Besitzansprüchen. Deshalb braucht es Orte, die sich diesen Ansprüchen entziehen und an das Recht auf Freiheit erinnern.»

Eigeninitiative und Eigenverantwortung

Doch ohne Initiierungen und Teilhabe wäre die Zurückeroberung des Raumes in unserer Gesellschaft nicht möglich. «Wir haben damals einfach gesagt: ‹Wenn hier nichts passiert, dann geht etwas verloren, darum müssen wir einen Verein gründen und das Areal öffnen›», erinnert sich Erlend. «Aber das alles entstand nicht einfach so», betont Mario. «Wir haben beispielsweise die Baubewilligungen für die Infrastruktur eingereicht. Kreative Ideen und Initiativen hatten hier die Möglichkeit zu wachsen», sagt Erlend. Der Gestaltungsspielraum auf dem Gelände der ehemaligen Kehrichtverbrennungsanlage war buchstäblich riesig. «Jeder hat beigetragen, was er will und die Verantwortung dafür übernommen, denn das zeichnet Freiheit aus. Beschränkt wird sie, wenn Menschen nicht das machen, was sie wollen oder sich Freiheit herausnehmen, ohne eigenverantwortlich zu handeln», sagt Christian. Zudem musste die Brache trotz ihres Selbstverständnisses auch offen und gewissermassen politisch neutral bleiben, um mit den Behörden und Nachbarn einen konstruktiven Austausch pflegen zu können. Es galt nicht nur kulturelle Inputs einzubringen, sondern auch Organisatorisches zu leisten und den Spagat zu schaffen zwischen Nonkonformität und legaler Zwischennutzung.

Immer wieder neu

Die Trauergäste schauen mit Freude auf die vergangenen Jahre zurück. Nun wird die Warmbächlibrache in Holligen definitiv bebaut. Aber unter das Bedürfnis nach freiem Raum in Bern wird kein Schlussstrich gezogen. Dank dessen und dem Herzblut, das Menschen zu investieren bereit sind, entstehen immer wieder aufs Neue, in verschiedensten Formen, kleine und grosse Oasen der Freiheit und Begegnung – in leerstehenden Arealen, öffentlichen, umgenutzten Gebäuden, draussen im Quartier und auf ehemaligen Parkplätzen. Möge sich die schöpferische Kraft entfalten!

Am Anfang war das Leer.
Foto: Samuel Hubschmied

Fr 18.09. 2020