Die zweite Ausgabe der Kolumne von unserem Mann in der Weltmetropole: Moritz Marthaler schaut monatlich von Berlin auf Bern rüber. Von Moritz Marthaler
Neulich habe ich herausgefunden, dass es ihn gar nicht gibt, den Grossstädter. Alles Quatsch. Nun ja, noch so mancher würde von sich behaupten, einer zu sein, doch tief in sich drin, da mag jeder sein Gärtchen, sein Läubchen, sein Quartier und seine Hood und der Big City Boy wird zum Berner Bonzenkind. Im Fussball ist ja betrüblicherweise Sommerpause; Kenner halten sich mit der Copa America, die völlig Verzweifelten mit Frauenfussball über Wasser. Die Berühmten weilen im Trainingslager im Berner Oberland, und über die Bundesliga werden in den Berliner Tageszeitungen läppische zwei statt wie üblich zehn Seiten gedruckt. Sommerloch total. Es kam daher, dass es ein ziemlich entspannter, um nicht zu sagen träger Sonntag war, damals, als ich wie erwähnt herausgefunden habe, dass es ihn gar nicht gibt, den Grossstädter. Es war die Zeit vor der Hitzewelle, die Menschen erfreuten sich an der Sonne, sie badeten in den Flüssen und Seen aus Musse und nicht, um zu überleben. Abends lud eine wunderbare Stadt zu so ziemlich allem vorstellbaren ein, Konzert hier, Kino da, Revolution überall. „Nee, lass nich wegfahren“, meinte ein Bekannter, „lass hierbleiben, Tatort in der Kneipe ums Eck.“ Das Kleine im Grossen, ich erkannte mich plötzlich wieder. Eigentlich schön.
Public-Tatort-Viewing – eine Erfindung, die uns der Teutone voraus hat. Eine andere ist das Pfandsystem. Die Parks scheinen sich von selbst zu reinigen, emsig sammelnde Punks und Penner gehören zum Strassenbild. So auch dieser eine, nachts am Landwehrkanal. Es war warm, heiss noch immer, besagte Welle hatte die ganze Stadt mit bleierner Wucht begraben. Der Pfandsammler wankte, er stöhnte, diverse Substanzen müssen ihm das Sprechen verunmöglicht haben. Er blickte nett, schalkhaft irgendwie. Meine leeren Bierflaschen streckte ich ihm bereitwillig hin, sharing is caring is recycling. Er nahm an, lächelte, zog weiter, urbane Nächstenliebe überkam mein kleinstädtisches Herz, selbstzufrieden lächelnd drehte ich mich noch einmal nach ihm um. Genüsslich warf er Flasche um Flasche in hohem Bogen ins Wasser. Was für ein Grossstädter.
Zur Kolumne
Moritz Marthaler, Berner Sportjournalist, entdeckt die deutsche Metropole Berlin für sich. Gleichzeitig schielt er auf das Geschehen in der Bundeshauptstadt Bern, vor allem auf den ambitionierten, aber öfter erfolglosen Berner Grossklub BSC Young Boys. Die Resultate von YB bilden den Ausgangspunkt für eine Annäherung und Schwenker auf Berlin und seine unendlichen Ausgehmöglichkeiten, zusammengewürfelte Bevölkerung, launische Zeitgenossen, tausend Eigenheiten.